Veranstaltung: | 1. Ordentlicher Landesdelegiertenrat 2022 |
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Tagesordnungspunkt: | 4. Anträge |
Status: | Beschluss |
Abstimmungsergebnis: | Ja: 31, Nein: 1, Enthaltungen: 0 |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenrat |
Beschlossen am: | 19.03.2022 |
Eingereicht: | 19.04.2022, 10:57 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Die Krise nicht hinnehmen – Gesundheitliche Versorgung vor Ort sichern
Beschlusstext
Die Krise der stationären Gesundheitsversorgung in Sachsen-Anhalt ist den
meisten bewusst und wird politisch diskutiert. Aber auch das System der
ambulanten Gesundheitsversorgung kommt aufgrund der demographischen Entwicklung
an seine Grenzen und benötigt Aufmerksamkeit und Weichenstellungen.
Nicht nur, dass die Bevölkerungszahl in Sachsen-Anhalt in den ländlichen
Regionen kontinuierlich sinkt und damit ein quantitatives Problem entsteht,
vielmehr erzeugen qualitative Veränderungen große Herausforderungen für die
Versorgung, weil multimorbide Patient*innen häufiger werden und gesundheitliche
Erkrankungen und Pflegebedarfe immer häufiger gemeinsam auftreten. Der
demographische Wandel macht auch vor den Ärzt*innen selbst nicht halt. Ihr
Durchschnittsalter steigt und absehbar werden viele Leistungserbringer*innen aus
dem System aussteigen, wodurch die Versorgungssituation zunehmend prekär wird.
Bereits manifest sind Versorgungsdefizite im Bereich der hausärztlichen
Versorgung. Auch gerade der wohnortnahe Zugang zu Kinderärzt*innen muss in
Sachsen-Anhalt garantiert sein und ist es immer weniger.
Absehbar wird es schwieriger Praxisnachfolger*innen zu finden, weil es sich
entweder abzeichnet, dass eine Einzelpraxis sich wirtschaftlich kaum trägt oder
- im umgekehrten Fall - aufgrund des Versorgungsmangels mit einem sehr großen
Zustrom an Patient*innen zu kämpfen haben wird und etwa viele
Bereitschaftsdienste sich abzeichnen, wenn die Zahl der Praxen in einer Region
sinkt.
Diese Effekte der Demographie werden durch einen zweiten Faktor befördert: Der
Trend bei jungen Ärzt*innen, statt auf eine eigene Praxis zu setzen lieber in
einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten. Darauf deuten aktuelle Zahlen und
Befragungen. Hierauf gilt es politisch zu reagieren. Das klassische Bild
ärztlicher Einzelgänger*innen, die unermüdlich für ihre Patient*innen da sind,
erodiert. Viele junge Ärzt*innen präferieren ein ausgeglichenes Verhältnis
zwischen Beruf und Privatleben, was grundsätzlich zu begrüßen ist.
Selbstausbeutung soll nicht mehr handlungsleitend sein und darf nicht die
erwartete Grundlage politischer Bewertung der Versorgungssituation sein.
Hinzu kommt, in diesem Falle als möglicher Teil einer Lösung, die zunehmende
Professionalisierung der Gesundheits- und Pflegeberufe. Auch diese sägt am Ast
eines bisher ärztlich-zentrierten Gesundheitssystems. Einerseits aus dem
Erstarken der Profession selbst hergeleitet und begleitet von Entwicklungen wie
der Akademisierung und der Stärkung der Selbstvertretung durch beispielsweise
Pflegekammern. Andererseits aus der Not geboren, weil das ärztlich-zentrierte,
ambulante System die Versorgung mittelfristig nicht wird sichern können.
Akteur*innen wie die Kassenärztliche Vereinigung mit ihrem
Sicherstellungsauftrag sind daher genötigt, neue Wege zu gehen. Diese neuen Wege
gilt es von Seiten der Landespolitik einzufordern, aber insbesondere auch zu
unterstützen und zu begleiten.
Denn klar ist für uns BÜNDNISGRÜNE: Gesundheitsversorgung gehört zur
Daseinsvorsorge und ist integraler Bestandteil einer Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse. Um diesen integralen Bestandteil wirklich zukunftsfest zu
machen, braucht es neue Ideen und vor allem die Partizipation und Zusammenarbeit
aller politischen und auch aller Akteur*innen im Gesundheitssystem
einschließlich der Patientenvertretungen.
Gesundheitliche Versorgung zur gemeinsamen Chefsache machen
Ein nebeneinander - im schlimmsten Fall gegeneinander - der Beteiligten an der
gesundheitlichen Versorgung darf es nicht mehr geben. Wir wollen regionale
Verantwortungsgemeinschaften befördern. Also den Zusammenschluss aller
relevanten Akteure der gesundheitlichen Versorgung, die sich dem gemeinsamen
Ziel einer bestmöglichen Versorgung in ihrer Region verschreiben. Von den
Patient*innen selbst, über die Kommunen mit ihren Gesundheitsämtern, den
Leistungserbringer*innen, den Apotheken, den Heilmittelerbringern, den Kassen
bis hin zu Vereinen und Verbänden sowie der kassenärztlichen Vereinigung. Im
Bereich der psychiatrischen Versorgung konnten wir diesen Weg durch die
gesetzliche Schaffung von gemeindepsychiatrischen Verbünden bereits beschreiten.
Einen solchen Kooperationszusammenhang im Bereich der ambulanten Versorgung
wollen wir durch die verbindliche Aufnahme von kommunalen Gesundheitskonferenzen
im ÖGD-Gesetz auf den Weg bringen. Solche Gesundheitskonferenzen sind keine
einmaligen, regionalen Fachkonferenzen, sondern angelegt als kontinuierliches
Arbeits- und Vernetzungsgremium mit den Gesundheitsämtern als Geschäftsstelle.
Deren erstarkte Stellung durch ihre prominente Rolle in der Pandemiebekämpfung
ist aufzugreifen und zu nutzen, um sie langfristig in der Kommune zum
gesundheitspolitischen Dreh- und Angelpunkt zu machen. Gesundheitskonferenzen
können bspw. beginnend etwa mit der Erarbeitung von kommunalen Gesundheitszielen
in Analogie zu den Gesundheitszielen des Landes ihre Tätigkeit beginnen.
Wichtige Aufgabe dieser Gesundheitskonferenzen wird es auch sein, bei sich
verändernden stationären Versorgungssituationen, durch Anpassungen im ambulanten
Bereich, zumindest teilweise Kompensation zu schaffen. Beim regionalen Wegfall
von Kliniken im Bereich Pädiatrie oder Geburtshilfe beispielsweise, sollte mit
einem Ausbau der Kassenarztsitze und geförderten Hebammenpraxen einer
Unterversorgung entgegengewirkt werden.
Verstärken wollen wir diesen kooperativen Ansatz durch die Förderung von
Gesundheitsregionen. Dafür wollen wir ein Modellprojekt des Landes auf den Weg
bringen. Beispielgebend ist dafür seit vielen Jahren das Projekt “das Gesunde
Kinzing-Tal” in Baden-Württemberg (https://www.gesundes-kinzigtal.de/). Verkürzt
gesagt wird eine Gesundheitskonferenz ergänzt durch eine Managementgesellschaft,
die für eine Gesundheitsregion eine Gesamtbilanz zieht zu Ausgaben und
Gesundheitsleistungen. Effizienzsteigerung heißt dann ausdrücklich nicht
Leistungsverknappung und damit Einsparungen, sondern beispielsweise die
erstmalige wirkliche Kennbarmachung von z.B. Wirkungen von Präventionsmaßnahmen.
Mit der Landarztquote hat das Land Sachsen-Anhalt einen guten Weg begonnen,
schon während des Studiums den Nachwuchs für ländliche Praxen zu sichern. Dieses
Instrument sollte ausgebaut werden und, wenn möglich, auch zur Sicherung der
fachärztlichen ambulanten Versorgung nutzbar gemacht werden.
- Novelle des ÖGD-Gesetzes zur Implementierung kommunaler
Gesundheitskonferenzen
- Aufwertung und Stärkung der Gesundheitsämter
- Landesförderung für ein Modellprojekt zu Gesundheitsregionen
- Kopplung der Landesgesundheitskonferenz an die kommunalen
Gesundheitskonferenzen
- Fortentwicklung der Gesundheitsziele des Landes mit Ausrichtung auf die
ländlichen Regionen
- Ausbau der Landärztin/Landarzt-Quote / Aufbau weiterer fachärztlicher
Bereiche
Professionen auf Augenhöhe
Das bisher wirkende Strukturprinzip der Arztzentrierung degradiert alle weiteren
Berufe im Gesundheitssystem zu Helfs- und Zubringerberufen. Die Akademisierung
der Hebammenausbildung, die beginnende Akademisierung der Pflege, die neue
generalistische Pflegeausbildung, Einrichtung und Diskussion zur eigenständigen
Vertretung durch Pflegekammern aber auch Heilberufekammern heben aber aktuell
die Gesundheits- und Pflegeberufe peu a peu auf eine gleiche Augenhöhe.
Für uns BÜNDNISGRÜNE ist klar: Wir wollen eigenverantwortliche Professionen im
Bereich Gesundheit und Pflege, die auf Augenhöhe mit den Ärzt*innen in
multiprofessionelle Teams arbeiten.
Dies ist auch ein zentraler Strang emanzipativer Ansätze, denn der ärztliche
Berufsstand und die zuarbeitenden Pflegeberufe waren und sind durch eine
Geschlechterasymmetrie untersetzt. Männlicher Arzt. Weibliche Pflege. Rein
empirisch kippt dieses Verhältnis. Jetzt gilt es auch die Strukturelemente zu
überwinden, die eigenständige Pflege- und Gesundheitsprofessionen verhindern.
Als zentrales Element betrachten wir hier die berufliche Selbstverwaltung.
Qualitäts- und Kriterienkataloge sollen zukünftig ausschließlich aus der eigenen
professionellen Expertise heraus entwickelt und nicht länger durch Berufsfremde,
wenngleich aus benachbarten Berufsgruppen, definiert werden.
Diese Aufwertung betrachten wir auch als zentrale Maßnahme für die
Fachkräftegewinnung. Eine Profession mit einem gesunden Selbstvertrauen, mit
starken Interessenvertretungen und eben auch mit individuell möglichen
Karrierepfaden spricht weit mehr junge Menschen an, als das Bild der Pflege als
rein “dienende” und “aufopferungsvolle” Rolle.
Mit in Deutschland neuen Berufsfeldern zum Beispiel für die Pflege, wie dem
Community Health Nursing, wachsen auch die Möglichkeiten, Versorgungsdefizite
strukturell zu lösen. Von Gemeindeschwestern-Projekten wie „VERA“ über an Praxen
angebundene ambulante Fachpflege bis hin zu Prävention: es ist Zeit diese Ideen
aus dem Status von Pilotprojekten zum Teil der Regelversorgung zu entwickeln.
Konkret bedeuten Gesundheitsprofessionen in eigener Verantwortung zum Beispiel:
wir wollen den Direktzugang zu Leistungen der Gesundheitsberufe. Ärzt*innen
sollen nicht weiter Gatekeeper für diese Leistungen sein. Physiotherapeut*innen
oder Ergotherapeut*innen etwa sind dafür ausgebildet und fachlich in der Lage,
auf der Basis fundierter Diagnostik über den Behandlungsbedarf zu entscheiden.
Es ist überfällig und ressourcenschonend, diese Expertise anzuerkennen und die
Erstattung solcher Behandlungen nicht länger von einem ärztlichen Rezept
abhängig zu machen.
Beispielgebend ist hier die Versorgung durch approbierte Psychotherapeut*innen
und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen. In diesem Bereich brauchen
wir wegen den Folgen der Pandemie zusätzlich einen Ausbau der
Versorgungsstruktur.
Wir sind der Überzeugung, dass durch Maßnahmen dieser Art auch das Profil der
ärztlichen Tätigkeit geschärft wird und Ärzt*innen sich wieder auf ihre
Kernkompetenz beziehen können, anstelle vielfach nur Überweisungen auszustellen.
Die ärztliche Ausbildung soll dabei explizit nicht zur Disposition gestellt
werden.
Das erfolgreiche Projekt der Hebammenkreißsäle ist ein gelungenes Beispiel aus
Sachsen-Anhalt. Entsprechend wollen wir dies ausweiten und im Land
flächendeckend ausrollen in den Krankenhäusern mit Geburtsstation. Für die
ambulante Versorgung muss dem Mangel an Hebammen durch Hebammenpraxen und der
Förderung freiberuflicher Hebammen im ländlichen Raum begegnet werden.
- Landespolitischer Einsatz für die Schaffung eigenständiger Professionen im
Bereich der Gesundheits- und Pflegeberufe.
- Initiierung einer Umfrage und Kampagne zur Einrichtung einer Pflegekammer.
- Aufnahme von Pflegeverbänden in das Gremium nach §90a SGB V
- Unterstützung von Vorhaben auf Landesebene zum Ausbau der Ansätze von VERA
& Co. (Gemeindeschwestern) und community health nursing und Einsatz für
ihre Integration in die Regelversorgung
- Mit Hebammenpraxen den erfolgreichen Ansatz des hebammengeleiteten
Kreißsaals im ambulanten Bereich ausbauen und ergänzen
Überwindung der ärztlichen Einzelpraxis
Medizinische Versorgungszentren, multiprofessionell besetzte, ärztliche Praxen,
von Kommunen bereit gestellte Praxisräume etwa für Rotationssprechstunden,
mobile Praxen, telemedizinisch unterstützte Leistungserbringung von Gesundheits-
und Pflegeberufen in der Fläche. All dies sind Formen der ambulanten
Gesundheitsversorgung, die es breit zu erproben und zu stärken gilt. Sie alle
ergänzen das Prinzip der ärztlichen Einzelpraxis in eigener Niederlassung. Um
die passende Form für die jeweiligen regionalen Bedarfe zu entwickeln, sind die
zuvor genannten Gesundheitskonferenzen geeignete Gremien, weil dort die
Sichtweisen, Informationsstände und Interessen aller beteiligten Akteur*innen
zusammenlaufen und im besten Falle abgestimmt werden können.
Im besten Falle werden die Kommunen zum Taktgeber dieser Entwicklung. Dies
wollen wir durch einen Landespreis unterstützen, in dem die besten Versorgungs-
und Präventionsideen nicht nur geehrt werden, sondern durch die öffentliche
Aufmerksamkeit auch zum Nach- und Noch-besser-machen animieren.
Große Hoffnungen werden, wie in allen Bereichen, auch im Bereich der
Gesundheitsversorgung in die Digitalisierung gesetzt. Mehr oder weniger
vielversprechende Projekte auf Bundesebene wie die Einführung der digitalen
Patientenakte oder das digitale Rezept sind noch nicht abgeschlossen und können
auf ihre Wirksamkeit daher noch nicht beurteilt werden. Die Digitalisierung der
Dokumentation im Pflegebereich sorgt bei den Anwender*innen oft eher für
Frustration. Deshalb ist es höchste Zeit, die Zukunftschancen, die in digitalen
Anwendungen im Gesundheitsbereich liegen, konzertiert hervorzustellen und
nutzbar zu machen. Von telemedizinischer Unterstützung von Notfallversorgung und
Diagnostik über die tatsächliche Entlastung durch digitale Dokumentation bis hin
zu modernen Krankenhausinformationssystemen und der einfachen und sicheren
Kommunikation zwischen Leistungserbringern: es ist an der Zeit, Forschung,
Entwicklung und Kompetenzen zu bündeln und an einem Punkt nutzbar zu machen. Wir
fordern daher die Errichtung eines Landeszentrums zur Digitalisierung im
Gesundheitswesens, das alle bisherigen Ansätze und Aktivitäten zum Beispiel an
der MLU oder das Projekt TGD (Translationsregion für digitalisierte
Gesundheitsversorgung) bündelt und ergänzt.
- Handlungsleitfäden für die Kommunen zur Errichtung kommunaler MVZ und
multiprofessioneller kommunaler Gesundheitszentren
- Ausschreibung des Landespreises “Innovative Versorgungsformen in
ländlichen Räumen” oder “Das gesunde Dorf”
- Einrichtung eines Landeszentrums zur Digitalisierung im Gesundheitswesen
In der Medizin ist die Krise die sensibelste Krankheitsphase. Sie kann zur
endgültigen Katastrophe führen, oder durch glückliche Wendung die Genesung
bewirken. Politisch ist es nicht an Glück gebunden, die aktuelle gesundheitliche
Versorgungskrise zu lösen. Sondern an mutige und kluge Entscheidungen und
Weichenstellungen. Und die Zeit dafür ist spätestens jetzt.